Grundsatzrede auf der Internationalen Konferenz „25 Jahre nach dem Unfall von Tschernobyl: Sicherheit für die Zukunft“

Sehr geehrter Herr Präsident,
Exzellenzen,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
meine Damen und Herren!

Es ist mir eine große Ehre, heute hier an Stelle von WHO-Generaldirektorin Margaret Chan sprechen und Ihnen ihre Grußbotschaft überbringen zu dürfen.

Vor 25 Jahren erschütterte die Katastrophe von Tschernobyl, der bisher schwerste Unfall in der zivilen Nutzung der Kernenergie, das Herz Europas und rief angesichts ihrer gesundheitlichen, ökologischen und sozialen Auswirkungen Bestürzung und Besorgnis auf dem gesamten Konti-nent hervor.

Über das Ausmaß der Folgen des Unfalls – und insbesondere seine gesundheitlichen Aus-wirkungen – ist von Wissenschaftlern und Politikern umfassend und kontrovers diskutiert worden.

Tatsächlich hat die Ungewissheit hinsichtlich der gesundheitlichen Folgen die Besorgnis in der betroffenen Bevölkerung erhöht und die Hoffnungslosigkeit angesichts einer als unkontrollierbar angesehenen gesundheitlichen Bedrohung verstärkt, die gegenwärtige und künftige Generationen gleichermaßen betrifft. Vielerorts ist Tschernobyl gewissermaßen zur „Erklärung“ für verschiedene Probleme geworden, die eigentlich auf allgemeine gesundheitspolitische Ursachen zurückzuführen sind und durch den schwierigen politischen, ökonomischen und sozialen Übergang verschärft werden, den die betroffenen Länder in jüngster Zeit durchlaufen haben.

Die WHO arbeitet mit einer Vielzahl von Partnern auf nationaler und internationaler Ebene am Aufbau einer soliden gemeinsamen Evidenzgrundlage in Bezug auf die gesundheitlichen Folgen des Unfalls. Sie hat die gesundheitlichen Auswirkungen des Reaktorunfalls bewertet, und die Ergebnisse sind in zwei bahnbrechenden Berichten zusammengefasst. Der erste wurde von der WHO im Jahr 2006 im Rahmen des Tschernobyl-Forums der Vereinten Nationen veröffentlicht, der zweite im Jahr 2011 vom Wissenschaftlichen Ausschuss der Vereinten Nationen zur Unter-suchung der Auswirkungen der atomaren Strahlung (UNSCEAR). In dem Bericht des UNSCEAR wurden die neuesten verfügbaren Informationen berücksichtigt. Diese beiden Unter-suchungen liefern weitgehend übereinstimmende Befunde und sind das Ergebnis einer umfassenden Bewertung der vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse aus nationalen und internationalen Studien. Deshalb gilt unser Dank heute den Tausenden von Wissenschaftlern und Beamten in den Ländern sowie in internationalen Organisationen, die mit ihrer täglichen Arbeit in all diesen Jahren diese Bewertungen möglich gemacht haben: durch Erhebung von Daten, durch Behandlung von Patienten und durch Gewinnung des Wissens, das notwendig ist, um Mythen und Fehleinschätzungen zu überwinden.

Insgesamt wurden bisher in den am stärksten betroffenen Ländern ca. 6000 Menschen, die im April 1986 Kinder oder Jugendliche waren, mit Schilddrüsenkrebs diagnostiziert. In den kommenden Jahrzehnten werden unter den im Jahr 1986 der Strahlung ausgesetzten Personen neue Fälle von Schilddrüsenkrebs erwartet, auch wenn das Ausmaß der Risiken und die Zahl der künftigen Fälle nur schwer quantifizierbar sind.

Die zu erwartende Zahl der durch Tschernobyl bedingten zusätzlichen tödlichen Krebser-krankungen unter Liquidatoren, Evakuierten und Bewohnern der hochgradig bzw. weniger verseuchten Regionen in Belarus, der Russischen Föderation und der Ukraine (ca. 6 Mio. Menschen) wird auf bis zu 9000 geschätzt, was etwa einem Anstieg der Zahl der Krebstoten um etwa 1% im Vergleich zu der für diese Population zu erwartenden Zahl (ca. 1 Mio. Fälle) entspricht. Von diesen 9000 zusätzlichen Todesfällen infolge von Krebs dürften ca. 4000 auf die 600 000 am stärksten belasteten Menschen entfallen, was einen Anstieg um 3,5% gegenüber der Hintergrundmortalität für Krebs bedeutet.

In den letzten Jahren wurde oft darauf hingewiesen, dass diese Zahlen deutlich niedriger sind als ursprünglich erwartet. Das trifft zu, und deshalb sind eine Reihe von Aspekten zu berücksichti-gen. Erstens basiert unsere Einschätzung des Ausmaßes der Folgen auf soliden wissenschaftli-chen Erkenntnissen, die in gut konzipierten, professionell durchgeführten und systematisch ana-lysierten Studien gewonnen wurden. Ferner sind wir der Meinung, dass die Auswirkungen des Reaktorunfalls teilweise durch das schnelle Eingreifen der Liquidatoren, die zügige Evakuierung der Menschen aus den betroffenen Gebieten und die Verteilung von stabilen Jodtabletten zur substanziellen Reduzierung der Aufnahme radioaktiven Jods abgeschwächt wurden. Doch diese Zahlen bedeuten nicht, dass die gesundheitlichen Folgen von Tschernobyl nur mäßig oder gar hinnehmbar wären. Tausende von Krebsfällen nach dem Unfall sind für die betroffenen Bürger ein unerhört hoher Preis für die ökonomische Entwicklung. Eine ökologische Katastrophe dieses Ausmaßes wird nicht dadurch akzeptabler, dass statt Hunderttausenden von Menschen nur Tau-sende erkranken oder sterben.

 
Neben diesen Todesfällen und Erkrankungen hatte der Reaktorunfall von Tschernobyl vor allem auch erhebliche quantitative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der betroffenen Be-völkerung. So sind Angstzustände in dieser Population doppelt so häufig wie in einer Kontroll-population; von multiplen unerklärten körperlichen Symptomen und einem subjektiv empfunde-nen schlechten Gesundheitszustand war sie nach eigenen Angaben im Vergleich zur Kontrollpo-pulation sogar drei- bis viermal häufiger betroffen. Diese Auswirkungen werden überwiegend auf einen Mangel an zuverlässigen Informationen in der Zeit unmittelbar nach dem Unfall zu-rückgeführt.

Ein solches Ausmaß an psychosozialen Folgen war nicht erwartet worden. Der Reaktorunfall von Tschernobyl war vielleicht das erste Mal, dass sich die Bedeutung der Kommunikation in Bezug auf den Umgang mit Gesundheitsrisiken so deutlich zeigte. Sie ist nicht nur ethisch und politisch begründet, sondern kann auch dazu beitragen, Ängste in der Bevölkerung und gesund-heitliche Folgen abzuwenden und kostspielige Langzeitstudien zu vermeiden. Diese Erkenntnis sollten all diejenigen beherzigen, die mit der Krise in Japan und der Freisetzung von Radioaktivi-tät aus dem Kernkraftwerk in Fukushima konfrontiert sind: Information, Transparenz und Re-chenschaftsablage sind in solchen und ähnlichen Situationen oberstes Gebot.

25 Jahre nach Tschernobyl verlagern die betroffenen Länder und die internationale Gemeinschaft die politischen Schwerpunkte von den Anforderungen in Verbindung mit dem Standort hin zu einer stärker ganzheitlichen Sicht der Bedürfnisse der betroffenen Menschen und Gemeinschaf-ten. So werden die Bürger in diesen Ländern verstärkt befähigt, den Übergang zu einer voraus-schauenden Entwicklung wirksamer mitzugestalten.

In diesem Gesamtrahmen hat die WHO einen aktiven Beitrag zum Internationalen Forschungs- und Informationsnetz zu Tschernobyl (ICRIN) geleistet. Dieses hat auf der Grundlage der Er-gebnisse des Tschernobyl-Forums der Vereinten Nationen wissenschaftliche Informationen in für Laien verständlicher Sprache veröffentlicht; außerdem soll die betroffene Bevölkerung mit einer Reihe konkreter Projekte und Aktivitäten dabei unterstützt werden, die Kontrolle über ihr Leben zurückzugewinnen und die Katastrophe hinter sich zu lassen. Eine angemessene Einord-nung der Strahlenrisiken würde es den für die Bevölkerungsgesundheit zuständigen Behörden wie auch den Bürgern selbst ermöglichen, sich dringenderen Gesundheitsproblemen der Bevöl-kerung zuzuwenden.

Dennoch müssen die konkreten gesundheitlichen Bedürfnisse der betroffenen Menschen auch weiterhin beobachtet und entsprechend versorgt werden; ich denke hier etwa an die Gesund-heitsversorgung von Arbeitern, die sich vom akuten Strahlensyndrom erholt haben, aber auch an andere Einsatzkräfte mit starker Exposition. Für Untergruppen der Bevölkerung, die eine beson-dere Sensibilität aufweisen (etwa Kinder, die signifikanten Mengen an Radiojod ausgesetzt wa-ren oder 1986 in Gebieten mit radioaktivem Niederschlag lebten), sollte eine Untersuchung auf konkrete Resultate wie Schilddrüsenkrebs in Betracht gezogen werden, wobei jeweils Kosten und Nutzen der einzelnen Programme zu berücksichtigen sind. Die Gesundheit der Bevölkerung sollte durch Weiterführung von Krebsregistern und durch Folgestudien weiter beobachtet wer-den, um Trends festzustellen und Prioritäten ins Visier zu nehmen.

 
Herr Präsident, meine Damen und Herren!

Die Folgen der Katastrophe von Tschernobyl für die menschliche Gesundheit waren dramatisch, aber in mancherlei Hinsicht auch anders als erwartet. Der Reaktorunfall hat zu einer ungeheuer starken gesundheitlichen, sozialen und ökonomischen Belastung für die betroffenen Länder ge-führt.

Wir sind zuversichtlich, dass das System der Vereinten Nationen und die Mitgliedstaaten ihre Anstrengungen fortsetzen werden, damit alle Beteiligten aktiv auf die Ziele Wiederaufbau, Ent-wicklung und mehr Gesundheit hinarbeiten können. Die WHO ist auch weiterhin in der Lage und willens, diese Anstrengungen zu unterstützen.