• Ansprache an die hochrangige Tagung zum Thema „Flüchtlingsansturm auf die Mittelmeerländer der Europäischen Union: Kommende Herausforderungen für die Gesundheitssysteme“
13. April 2011, Rom
Sehr geehrte Damen und Herren Minister, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren!
Der Anlass, der uns heute hier zusammenführt, ist einmalig und verdient besonderes Augenmerk gerade aus gesundheitlicher Sicht. Ich danke der italienischen Regierung, die prompt die Initiative ergriffen und eine gemeinsame Untersuchung der gesundheitlichen Herausforderungen eingeleitet hat, welche die Flüchtlingswelle im Gefolge der schweren und unvorhergesehenen Krise im südlichen Mittelmeerraum auslöste.
Eingangs möchte ich auch Mitgliedstaaten aus der Europäischen Region wie Frankreich, Italien und der Türkei danken, die Schwerverwundete aus den Krisenherden in Nordafrika und insbesondere der Libysch-Arabischen Volks-Dschamahirija evakuiert und medizinisch versorgt haben.
Auch wenn Migranten und besonders Wirtschaftsflüchtlinge meist jung und gesund sind, müssen die Gesundheitssysteme der Empfängerländer doch sicherstellen, dass jede Person zeitnah Zugang zu hochwertiger Gesundheitsversorgung erhält. Dies gilt vor allem für die schwächsten unter ihnen, seien es körperlich versehrte oder chronisch erkrankte Menschen, Kinder, Alte und alle, die durch die strapaziöse Flucht unter oft beengten Verhältnissen schwer belastet wurden. So wird in der Tat auch die ortsansässige Bevölkerung am sichersten vor jeglichem mit dem Eintreffen von Migranten eventuell verbundenem Gesundheitsrisiko geschützt.
Entgegen der landläufigen Meinung zu den Gefahren durch die hypothetische Verbindung zwischen Migration und Krankheitsausbrüchen möchte ich hier jedoch betonen, dass in wohlhabenden Ländern das Risiko der Ausbreitung eingeschleppter Infektionskrankheiten auf die ortsansässige Bevölkerung extrem gering ist. Auch wenn Einzelfälle nicht ausgeschlossen werden können, ist ein signifikantes Auftreten von Tropenkrankenheiten wie Malaria, Cholera, fortgeschrittene Tuberkulose oder virales hämorrhagisches Fieber wegen hoher Standards in der Abwasserentsorgung und Schädlingsbekämpfung bzw. wegen des Fehlens geeigneter Überträger sehr unwahrscheinlich. Wir sollten uns daher auf eine lückenlose epidemiologische Überwachung konzentrieren und alle Migranten ausfindig machen und behandeln, die wegen infektiöser Erkrankungen wie Tuberkulose oder wegen nichtübertragbarer Krankheiten therapiebedürftig sind.
Im Zusammenhang mit der Aufdeckung und Behandlung von Tuberkulose freut es mich daher hier sagen zu können, dass ein europäisches Konsenspapier über die grenzüberschreitende Bekämpfung und Behandlung von Tuberkulose derzeit fertiggestellt wird. Das WHO-Regionalbüro für Europa, das Europäische Zentrum für die Kontrolle und die Prävention von Krankheiten, die International Union against Tuberculosis and Lung Disease und die Royal Dutch Tuberculosis Foundation (KNCV) haben es gemeinsam verfasst.
Lassen Sie mich allerdings auch hervorheben, dass der Gesundheitssektor allein die öffentliche Gesundheit vor den Herausforderungen durch die unerwarteten Flüchtlingsmassen nicht schützen kann. Dies erfordert vielmehr ein wirksames ressortübergreifendes Handeln der maßgeblichen Ministerien bzw. der entsprechenden regionalen und internationalen Organisationen. In dieser Hinsicht wird die WHO im Rahmen der Vereinten Nationen in enger Zusammenarbeit mit ihren Partnern agieren. Zu ihnen zählen das Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen und das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen neben Partnern wie der Europäischen Kommission und der Internationalen Organisation für Migration und weiteren bedeutsamen Akteuren aus Zivilgesellschaft und nichtstaatlichen Organisationen.
Wie Sie wissen, unterstützt die WHO einen Dialog auf hoher Ebene zu den mehrdimensionalen Aspekten internationaler Migration und Entwicklung. Im Rahmen dieses Dialogs muss beleuchtet werden, wie Migranten im Rahmen der nationalen Gesetzgebungen und Praktiken auf gerechte Weise und ohne Unterscheidung nach Geschlecht, Alter, Religion, Nationalität oder Rasse Zugang zu Einrichtungen der Krankheitsvorsorge und Gesundheitsversorgung ermöglicht werden kann. Es müssen Gesundheitsinformationssysteme geschaffen werden, die alle Bevölkerungsgruppen, auch Migranten, berücksichtigen und Daten und bewährte Praktiken zur Befriedigung der gesundheitlichen Bedürfnisse der Migranten anbieten. Hier möchte ich die Bedeutung der in den Internationalen Gesundheitsvorschriften geforderten Kernkapazitäten unterstreichen. Die WHO unterstützt all ihre Mitgliedstaaten darin, diese Kapazitäten für Krankheitsüberwachung und -bekämpfung bis zum rechtsverbindlichen Stichtag im Juni 2012 zu schaffen. Ich fordere alle Mitgliedstaaten der WHO nachdrücklich dazu auf, die Frist einzuhalten oder die Vorgabe sogar vorzeitig zu erfüllen. Die derzeitige Lage lässt uns erkennen, dass alle Länder Kapazitäten im Sinne wirksamer Systeme für die Überwachung von Krankheiten, für die Untersuchung von Ausbrüchen und für Fallmanagement und Gegenmaßnahmen benötigen.
Gesundheitsthemen in Bezug auf Migranten und Flüchtlinge sind seit vielen Jahren auf der Tagesordnung der WHO, insbesondere in ihrer Europäischen Region. Die Folgen der kriegerischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan und der anschließenden erheblichen Migrationsströme ganzer Bevölkerungsgruppen waren für die Gesundheitssysteme eine signifikante Herausforderung und führten zu internationalen Interventionen, an denen die WHO tatkräftig und maßgeblich durch Unterstützung der betroffenen Regionen beteiligt war.
Meine Damen und Herren!
In einer Welt mit großen Ungleichgewichten und globalem Reiseverkehr wird Migration schon ohne natürliche oder durch den Menschen verursachte Katastrophen zu einem Tatbestand, der die Regierungen zur Integration der gesundheitlichen Bedürfnisse der Migranten in ihre nationalen Pläne, Konzepte und Strategien zwingt. Im März 2010 veranstalteten die WHO, die Internationale Organisation für Migration und das spanische Ministerium für Gesundheit und Soziales in Madrid eine globale Konsultationstagung zum Thema Gesundheit von Migranten. Diese Konsultation beleuchtete eine Reihe von entscheidenden Punkten wie den für Migranten so wichtigen Zugang zur Gesundheitsversorgung als Kernelement eines auf Rechten beruhenden Gesundheitssystems. Sie unterstrich auch, dass die Konzepte und Strategien zur Bewältigung der gesundheitlichen Migrationsfolgen nicht Schritt gehalten haben mit den durch Umfang, Schnelligkeit und Vielseitigkeit moderner Migrationsformen gewachsenen Herausforderungen und dass sie nicht hinreichend die bestehenden gesundheitlichen Ungerechtigkeiten und die Gesundheit der Migranten bestimmenden Faktoren wie einen erschwerten Zugang zu Gesundheitseinrichtungen bewältigt haben.
Die Krisenereignisse im nördlichen Afrika geben den Herausforderungen durch Migration und Vertreibung eine neue Dringlichkeit. Sind unsere Gesundheitssysteme angemessen auf die Bewältigung der dramatisch anschwellenden Flüchtlingsströme vorbereitet? Unsere kollektive Vorbereitung ist extrem wichtig, wenn wir die Gesundheit von Migranten wie einheimischer Bevölkerung schützen wollen. In diesem Zusammenhang traf ich im Februar den italienischen Gesundheitsminister Ferrucio Fazio, um durch erweiterte Zusammenarbeit einer möglichen Notlage im Bereich der öffentlichen Gesundheit in Italien, aber auch in anderen Ländern der Europäischen Region entgegenzutreten. Die WHO und nationale Gesundheitsbehörden haben danach gemeinsam mit dem Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten Lampedusa und Sizilien in Italien sowie Malta und Griechenland zur Erkundung des Stands der Vorbereitungen besucht. Die Besuche brachten einige konkrete Probleme zum Vorschein wie den unzureichenden Zugang zu Trinkwasser und geregelter Abwasserentsorgung oder fehlendes Gesundheitspersonal, insbesondere Krankenschwestern, für Reihenuntersuchungen oder gesundheitliche Versorgung. Sie zeigten auch, wie notwendig eine bessere Abstimmung und vereinheitlichte gesundheitspolitische Interventionen vor allem im Bereich von Krankheitsüberwachung und in Bezug auf Frühwarn- und Reaktionssysteme sind. Auch im Bereich psychosoziale Betreuung und Unterstützung sind zusätzliche Planung und Vorbereitung erforderlich. In enger Zusammenarbeit mit ihren Partnern ist die WHO bereit, die zur Bewältigung dieser Herausforderungen im Bereich der öffentlichen Gesundheit nötige fachliche Unterstützung zu leisten. Der Globale Verbund zur Warnung und Reaktion bei Krankheitsausbrüchen und die WHO-Kooperationszentren können Notfallkapazitäten und Sachverstand im Bereich von öffentlicher Gesundheit und klinischer Medizin aufbringen. Die WHO kann Fachwissen besteuern und im Notfall die Bedürfnisse der Mitgliedstaaten befriedigen.
Meine Damen und Herren!
Manchmal entsteht der Impetus für gemeinsame und verstärkte Maßnahmen aus einer gemeinschaftlichen Bedrohung durch allgegenwärtige Gefahren. Erhöhte Bereitschaft des Gesundheitssektors, bessere Koordination mit anderen Sektoren und Solidarität zwischen den Ländern, seien es die Herkunfts- oder die Empfangsländer der Flüchtlinge und Migranten, sind entscheidend für deren schnellen Zugang zu angemessener Gesundheitsversorgung und für den Schutz der örtlichen Bevölkerung. Die WHO ist bereit ihre Mitgliedstaaten in diesem wichtigen Unterfangen zu unterstützen. Ich glaube, dass wir heute hier die Leitprinzipien der internationalen Arbeit für die Gesundheit der Bevölkerung erneut bestätigen sollten: Bekennen wir uns zu Gerechtigkeit und Fairness, um die bestmöglichen gesundheitlichen Ergebnisse für alle Menschen, auch Migranten, zu erreichen und unsere gemeinsamen Bemühungen um dieses edle Ziel zu verstärken.
Vielen Dank!