Rede: Warum das neue Rahmenkonzept „Gesundheit 2020“ für die gesamte Bevölkerung Dänemarks, aber auch über die Grenzen des Landes und der Europäischen Region hinaus so wichtig und nützlich ist
31. Oktober 2012, Kopenhagen
Frau Bürgermeisterin Thomsen, Frau Ministerin Krag, sehr geehrte Vorsitzende der gesunden Städte Dänemarks, liebe Kolleginnen und Kollegen,
Ich bin hocherfreut, hier und heute mit Ihnen die Annahme des Rahmenkonzepts „Gesundheit 2020“ der Europäischen Region begehen sowie einige Überlegungen dazu anstellen zu können, warum dieser gemeinsame Rahmen für die gesamte Bevölkerung Dänemarks, aber auch über die Grenzen des Landes und der Europäischen Region hinaus so wichtig und nützlich ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir leben in einer faszinierenden Zeit. Wer hätte vor 20 Jahren gedacht, dass heute drei Viertel der Menschheit Handys nutzen und dass Smartphones wertvolle Gesundheitsdaten aus der ganzen Welt für jeden ständig verfügbar machen. Die Fortentwicklung der globalen Telekommunikation hat die Art und Weise revolutioniert, wie und wie schnell wir uns Informationen beschaffen können und auch, wie einzelne Akteure große Menschenmassen beeinflussen können. Außerdem haben Fortschritte in der Medizintechnik, die Öffnung der Grenzen, Freihandelsabkommen und Investitionen in die globale Gesundheit in nie gesehenem Umfang zu größerer globaler Mobilität und zu einer Ausweitung des Verkehrs an Waren, Dienstleistungen und Personen beigetragen. Die Chancen zur Förderung der öffentlichen Gesundheit standen daher nie so gut wie heute.
Gleichzeitig steht die globale Gesundheit aber vor neuen Herausforderungen, die zusehends die Politik auf nationaler und lokaler Ebene beeinflussen und umformen. Heute ist die Gesundheit der Bürger in Horsens, Aarhus und Kopenhagen direkt von Kapazitäten der Gesundheitssysteme anderer Kontinente abhängig und ist oft sogar von deren fehlenden Kapazitäten bedroht, wenn etwa neue Infektionskrankheiten wie SARS (Schweres Akutes Respiratorisches Syndrom), Vogelgrippe oder Schweinegrippe auftreten und beherrscht werden müssen. Die Folgen der globalen Erwärmung, zum Beispiel extremes Wetter wie die heftigen Regenfälle in Dänemark 2010 und 2011, welche die Kanalisation überforderten und viele Schäden verursachten (hierunter an den Gebäuden der WHO in Kopenhagen), lassen sich nur in Zusammenarbeit aller Länder in den Griff bekommen. Mehr denn je müssen wir begreifen, dass Gesundheit und gesundheitliche Sicherheit uns alle miteinander verbinden und dass viele Herausforderungen im Bereich der öffentlichen Gesundheit ohne konzertierte Anstrengungen der lokalen, nationalen, regionalen und globalen Gemeinschaften nicht bewältigt werden können.
Die Anerkennung und Anwendung dieser Realitäten des 21. Jahrhunderts ist Teil der Begründung für die gemeinsame Gesundheitsstrategie der Europäischen Region „Gesundheit 2020“. Sie geht von zwei zentralen Annahmen aus. Erstens sind wir in dieser vielfältig vernetzten Welt nicht passive Zuschauer, sondern wir verstehen die Ursachen der schlechten Gesundheit unserer Bevölkerungen und können daher aktiv im Sinne von Gesundheit, Wohlbefinden und Wohlstand eingreifen. Zweitens können sich unsere einzelnen Maßnahmen in kollektivem Handeln potenzieren und hiervon hängt tatsächlich das gesundheitliche Schicksal der europäischen Bevölkerungen ab!
Die Herausforderung, die wir mit „Gesundheit 2020“ angenommen haben, liegt also im Auffinden der Wege, auf denen wir Europäer durch gemeinsames Handeln neue Chancen nutzen und allgemeine Probleme lösen oder, bildlich gesprochen, auf denen wir unsere Reise ebenso reibungslos wie wirksam gestalten können: In Fragen der Gesundheit sitzen wir alle im gleichen Boot. So gibt uns „Gesundheit 2020“ gewissermaßen die Verhaltensregeln an Bord, den Kurs, die navigatorischen Hilfsmittel und die Aufgaben der Passagiere an die Hand.
Verhaltensregeln an Bord: Etikette in der Gesundheitspolitik
Meine Damen und Herren, auf der Landstraße gilt als Faustregel, dass man nie wissen kann, was passiert. In der Seefahrt dagegen ist es hilfreich, plausible Erwartungen an das Verhalten der Passagiere an Bord zu stellen, und so enthält auch „Gesundheit 2020“ einige gemeinsame gesundheitspolitische Verhaltensregeln für die Europäische Region. Diese Grundregeln sind einfach, aber sehr wirksam. Sie besagen im Grunde, dass Handlungskonzepte auf Werten und Erkenntnissen beruhen und dass Interessengruppen in die Überprüfung dieser Konzepte einbezogen werden sollten.
Die Werte von „Gesundheit 2020“ bauen auf den 1948 durch die Staatengemeinschaft in die Satzung der WHO geschriebenen Prinzipien auf, wonach Gesundheit ein allgemeines Grundrecht ist. Sie verkörpern ein Bekenntnis zu Chancengleichheit, Solidarität, Menschenwürde, einem respektvollen Umgang mit Verschiedenartigkeit sowie Transparenz. Außerdem steht „Gesundheit 2020“ dafür, Konzepte auf Erkenntnisse, statt auf Bekenntnisse zu begründen, und sie unter Einbeziehung aller Akteure zu prüfen bzw. sie in großem Umfang durch die Behörden, Verbände und Interessengruppen vor Ort mitgestalten zu lassen. Darin ähneln diese Konzepte den Initiativen, die das dänische Gesundheitsministerium zur Entwicklung der allgemeinen Qualitätsagenda für alle Ebenen auf den Weg gebracht hat und in denen die Sachkenntnisse vor Ort für neue kreative Wege im Umgang mit chronischen Erkrankungen genutzt werden.
Bekanntlich streben alle Länder wertegeleitete, evidenzbasierte Konzepte an, die partizipatorisch von allen Akteuren geprüft werden, und so können wir von allen an Bord erwarten, dass sie bestimmte Normen für die Gesundheitspolitik aufstellen und sich gegenseitig beim Wort nehmen.
Ein Ziel: Sind wir jetzt bald da?
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich kenne Ihre Erfahrungen in dieser Hinsicht nicht, doch wenn meine Familie eine längere Reise antrat, fragten mich meine Kinder immer zuerst: „Wo fahren wir hin und wie lange dauert es?“ Und dann alle fünf Minuten: „Sind wir jetzt bald da?“
Tatsächlich ist das Ziel wichtig für das Abstecken des Kurses unserer virtuellen Schiffsreise zu globaler Gesundheit. Und wichtig ist, dass sich die 53 Mitgliedstaaten in der Europäischen Region der WHO durch das Rahmenkonzept „Gesundheit 2020“ auf ein gemeinsames Ziel und eine gemeinsame Bestimmung ihrer Gesundheitspolitik geeinigt haben: „erhebliche Verbesserung von Gesundheit und Wohlbefinden der Bevölkerung, Abbau von Ungleichheiten im Gesundheitsbereich, Stärkung der öffentlichen Gesundheit und Gewährleistung nachhaltiger bürgernaher Gesundheitssysteme, die flächendeckend sind und Chancengleichheit sowie qualitativ hochwertige Leistungen bieten.“
Außerdem verhandeln die Länder innerhalb der durch die derzeitige finanzielle Lage und administrative Belastungen begrenzten Möglichkeiten über gemeinsame Zielvorgaben, an denen sich die Fortschritte in Richtung auf das gemeinsame Ziel messen lassen.
Navigatorisches Geschick: Handlungsoptionen dem Bedarf anpassen
Nach der Vereinbarung der gemeinsamen Werte und des Ziels richtet sich die Aufmerksamkeit nun auf das navigatorische Geschick, durch das wir sicher an unser Ziel gelangen. Manche sagen, dass einen jede Straße ans Ziel führt, solange man kein Ziel hat! Aber wenn man ein Ziel hat, dann benötigt man eine Strategie, Handlungsoptionen und einen Plan.
Und hier ist „Gesundheit 2020“ wirklich brillant. In der zweijährigen Entstehungsphase prüften Hunderte von europäischen und internationalen Forschern und Praktikern Erkenntnisse und Erfahrungen sowie taugliche Antworten auf die gesundheitspolitischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts: gesundheitliche Benachteiligungen, die zunehmende Dominanz nichtübertragbarer Krankheiten, der demografische Wandel, die Migrationsproblematik sowie neue und wiederkehrende Infektionskrankheiten. Erhebliche Anstrengungen wurden für Kosten-Nutzen-Analysen der wirtschaftlichen Folgen unterschiedlicher Grundsatzmaßnahmen (oder deren Unterlassung) unternommen. Auf Grundlage dieser Studien wurden effektive und effiziente Grundsatzoptionen entwickelt und vorgestellt. Außerdem hat das Regionalbüro einige hervorragende Forschungsarbeiten zu sozialen Determinanten (koordiniert von Sir Michael Marmot) und zu neuen Führungsansätzen im Gesundheitswesen (koordiniert von Prof. Ilona Kickbusch) in Auftrag gegeben.
Lassen Sie mich hier klar aussprechen, dass durch die Endfassungen der Texte zu „Gesundheit 2020“ eine ungeahnte Schatzkammer sorgfältig ausgewählter Erkenntnisse geschaffen wurde, welche Praktiker im Bereich der öffentlichen Gesundheit und Entscheidungsträger aus anderen gesundheitsrelevanten Sektoren nutzen können (und sollten).
„Gesundheit 2020“ nennt und beschreibt vier vorrangige Handlungsfelder:
- Investitionen in Gesundheit durch einen Lebensverlaufansatz und die Stärkung der Handlungsfähigkeit der Menschen,
- Bekämpfung der großen gesundheitlichen Herausforderungen durch nichtübertragbare und übertragbare Krankheiten in der Europäischen Region,
- Stärkung von bürgernahen Gesundheitssystemen, von Kapazitäten in den öffentlichen Gesundheitsdiensten und von Vorsorge-, Surveillance- und Gegenmaßnahmen für Notlagen,
- Schaffung widerstandsfähiger Gemeinschaften und stützender Umfelder.
„Gesundheit 2020“ nennt auch einige der neuen Führungsqualitäten, die zur Steuerung unseres Gesundheitsschiffs benötigt werden. Zum Beispiel ist dort festgehalten, dass sich die Autorität der heute steuernden Akteure nicht mehr ausschließlich aus ihrer Stellung innerhalb des Gesundheitssystems abgeleitet, sondern auch aus ihrer Fähigkeit, andere davon zu überzeugen, dass Gesundheit und Wohlbefinden für alle Politikbereiche von maßgeblicher Bedeutung sind. Hier in Dänemark sind Sie mit diesen neuen Fähigkeiten und Ansätzen natürlich sehr vertraut, denn hier propagiert das Netzwerk gesunder Städte schon seit einiger Zeit das Prinzip „Gesundheit in jeder Planung“. Außerdem sind solche Einsichten und manche Aktionspläne in den Empfehlungen der äußerst interessanten Studie von Prof. Finn Diderichsen der Universität Kopenhagen zu finden, die das dänische Gesundheitsamt zum Thema soziale Ungleichheiten im Gesundheitsbereich Dänemarks angefordert hatte. In der Einleitung heißt es:
„Der Bericht deutet auf eine Reihe von Entwicklungen innerhalb existierender Politikbereiche hin, die zeigen, dass die Beseitigung gesundheitlicher Ungleichheiten nicht in erster Linie die Aufgabe des Gesundheitssektors ist. Vielmehr ist dies eine komplexe Aufgabe, die einen koordinierten Einsatz verschiedener Sektoren (etwa Bildungs-, Sozial-, Gesundheits- und Beschäftigungssektor) auf unterschiedlichen Verwaltungsebenen (national, regional und lokal) erfordert. Dafür sind viele Ansätze und die Beiträge vieler Berufsgruppen erforderlich. Dieser Bericht kann hoffentlich eine der Grundlagen für die künftige Organisierung und Priorisierung derartiger Anstrengungen sein.“
Studien und Empfehlungen wie diese sind nicht nur für Dänemark, sondern für die gesamte Europäische Region und über diese hinaus relevant. Damit komme ich zu einem weiteren wichtigen Merkmal von „Gesundheit 2020“ als ein Forum für den Erfahrungsaustausch und das gegenseitige Lernen der Länder, Regionen, Städte und Familienhaushalte voneinander. In unser enorm großen Region herrschen sehr unterschiedliche Bedingungen, so dass individuelle Formen der Führung erforderlich sind und auch gut dokumentierte evidenzbasierte Ansätze noch den örtlichen Verhältnissen angepasst werden müssen. Dennoch können wir alle einander positive Anstöße und Anregungen geben. Im Zusammenwirken können wir die Kapazitäten auf allen Seiten stärken.
Schließlich betont „Gesundheit 2020“ die Zusammenarbeit aller als Voraussetzung dafür, dass sich das Boot in die richtige Richtung bewegt. Lassen Sie mich noch auf diesen letzten Punkt hinweisen. Die Empfehlungen aus „Gesundheit 2020“ richten sich nicht nur an Regierungen. Sie sollen jedem von uns Wissen vermitteln. Schließlich sind wir alle Entscheidungsträger zumindest in den eigenen vier Wänden. Unsere eigenen Grundsätze entscheiden über die Verhaltensweisen unserer Kinder, unserer Einrichtungen und unserer Gemeinschaften und formen so die gesundheitlichen Ergebnisse mit.
„Gesundheit 2020“ kann uns allen nützliche Orientierungshilfen dafür geben, wie wir uns zu den häuslichen Herausforderungen in gesundheitlicher Hinsicht verhalten.
- Wie helfe ich meinen Kindern, keine schlechten Gewohnheiten anzunehmen?
- Wie beeinflusse ich meine Gemeinschaft so, dass sie Vorschriften erlässt, die gesundheitsförderliche Entscheidungen erleichtern?
- Wie arbeite ich partnerschaftlich mit meinem Gesundheitsanbieter daran, meine chronischen Erkrankungen zu bewältigen?
Ich bitte Sie eindringlich, sich die Texte anzusehen, sich von ihnen inspirieren zu lassen und ihnen praktische Hinweise zu entnehmen.
Lassen Sie mich zusammenfassen: „Gesundheit 2020“ ist ein Appell an die gesamte Gesellschaft, neu auftretende Chancen für die Gesundheit und das Wohlbefinden heutiger und künftiger Generationen zu nutzen. „Gesundheit 2020“ unterstützt alle Akteure darin und ermutigt sie auch dazu, gemeinsam für eine gesunde, wohlhabende, sichere, gerechte und grüne Europäische Region zu arbeiten.
Wir heißen Sie alle an Bord willkommen und freuen uns auf eine gesunde und frohe gemeinsame Reise. Wissen Sie schon, wo die Rettungswesten sind?