Ansprache – Warum Umweltschutz für die Gesundheit der Bevölkerung wichtig ist. Neue Erkenntnisse und Rahmenbedingungen für Politikgestalter
25. September 2013, Brüssel (Belgien)
Liebe Genon [Jensen], sehr geehrte Damen und Herren, verehrte Anwesende,
es bereitet mir große Freude hier heute vor Ihnen zu sprechen aus Anlass des zehnten Jahrestags der Gründung der bedeutsamen Organisation HEAL (Health and Environment Alliance), die für ein gemeinsames Ziel eine große Zahl von Verbänden aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft neben Umwelt- und Gesundheitsgruppen vereint.
Das Ziel – die Bewältigung des komplizierten und doch grundlegenden Wechselspiels zwischen Umwelt und Gesundheit – gehört zu den wichtigsten Anliegen der WHO, denn es macht eine der wichtigsten Determinanten von Gesundheit aus. Wo wir leben und arbeiten, wie wir konsumieren, was wir essen oder trinken und womit wir unsere Freizeit füllen, dies alles sind wichtige Faktoren für die Schaffung oder Zerstörung unserer Gesundheit.
Umwelt und Gesundheit sind der Ausgangspunkt aller Gesundheitspolitik. Seit jeher wussten die Menschen, wie wichtig reines Wasser und sichere Lebensmittel, angemessene Unterkunft und saubere Luft für Wohlstand und Wachstum sind. Dann zeigte John Snow im 19. Jahrhundert unter Verwendung moderner epidemiologischer Methoden die unbedingte Notwendigkeit, die Gesundheit der Menschen vor in der Umwelt verborgenen Risiken zu schützen.
Seitdem hat unser Wissen und Verständnis von dem Wechselspiel zwischen Mensch, Gesundheit und natürlicher Umwelt oder vom Menschen geschaffenen Umfeld in unvorstellbarem Ausmaß zugenommen. Wir wissen seit langem, dass sich durch die Bekämpfung der Überträger von Mikroorganismen viele Infektionskrankheiten verhindern lassen. Heute wissen wir außerdem, dass ein Großteil der Herz-Kreislauf-Erkrankungen durch Feinstaub in unserer Atemluft verursacht werden und dass eine bleiverseuchte Umwelt zu schweren Schäden an Psyche und Intellekt führen kann. Nichtübertragbare Krankheiten sind heute eines unser größten Sorgenkinder und ein Viertel der durch sie verursachten Krankheitslast wird auf Umweltdeterminanten zurückgeführt. Wir haben mittlerweile aber auch gelernt, dass die Umwelt nicht nur Quelle von Gesundheitsgefahren, sondern etwa im Rahmen guter Stadtplanung mit Angeboten grüner Erholungsbereiche sowie sicherer Geh- und Radwege auch von Gesundheit und Wohlbefinden sein kann. Wir begreifen, dass die Welt um uns herum, nicht nur Gefahren, sondern auch Möglichkeiten für ein längeres Leben in größerer Gesundheit bietet. Die Bewältigung der Umweltdeterminanten von Erkrankungen ist somit Gesundheitspolitik vom Feinsten: Sie sichert ein längeres, gesünderes und glücklicheres Leben für uns alle.
Wir haben auch gelernt, dass Umwelt und Natur kostbare und knappe Ressourcen sind, die durch die in den vergangenen 60 Jahren stark zugenommene menschliche Aktivität äußerst stark belastet worden sind. Die Einsicht, dass unsere Existenz und unser Streben nach Wachstum, Wohlstand und Wohlergehen zu irreparablen Schäden und zur Erschöpfung der Grundlagen führen können, von denen Gesundheit und Wohlbefinden der Menschheit heute und in Zukunft abhängen, haben Umweltschutz und Gesundheitspolitik enger zusammengebracht.
In der Europäischen Region der WHO wird diese Einsicht ebenso wie die Sorge um die Gesundheit der Menschen heute und in Zukunft von einem starken Bündnis aus Mitgliedstaaten und anderen Akteuren im Prozess Umwelt und Gesundheit für Europa geteilt. 1989 wurde mit der Annahme der Europäischen Charta zu Umwelt und Gesundheit auf der ersten Ministerkonferenz zum Thema Umwelt und Gesundheit in Europa ein historischer Meilenstein für die europäische Gesundheitspolitik gesetzt, weil Umwelt und Gesundheit erstmals so gemeinsam behandelt wurden, wie sie es verdienen.
Im Verlauf dieses Prozesses, der nun schon mehr als 20 Jahre währt, haben sich wissenschaftliche Erkenntnisse und Konzepte in diesem Bereich enorm fortentwickelt. Der Aktionsplan Umwelt und Gesundheit für Europa und später der Aktionsplan zur Verbesserung von Umwelt und Gesundheit der Kinder in Europa (CEHAPE), der auf der 4. Ministerkonferenz Umwelt und Gesundheit in Budapest angenommen wurde, an die ich als eine der Gastgeberinnen gerne zurückdenke, unterstützten wirksame Maßnahmen auf Ebene der Länder und lenkten unsere Aufmerksamkeit auf die besondere Vulnerabilität der Kinder gegenüber den Umweltdeterminanten. Die 5. Ministerkonferenz Umwelt und Gesundheit, die 2010 in Parma stattfand, erweiterte diese Agenda, indem sie ein Schlaglicht auf Ungleichheiten im Bereich von Umwelt und Gesundheit und die Wechselbeziehungen zwischen den ökologischen und sozialen Determinanten von Gesundheit warf und das Verständnis der geografischen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Ungleichheiten erweiterte, die miteinander verknüpft und in diesem Teil der Welt so signifikant und zugleich gänzlich inakzeptabel sind.
Der Prozess Umwelt und Gesundheit in Europa folgte auch früh der Erkenntnis, dass ein wirksamer Einsatz dem Motto „lokal handeln, global denken“ folgen müsse, und dass uns das Fehlen einer sicheren Trinkwasserver- und Abwasserentsorgung an einem Ort ebenso alle angeht, wie die Problematiken Klimawandel oder sichere Handhabung von Chemikalien nicht ordnungsgemäß geregelt werden können, wenn nicht jeder bzw. jede von uns dort, wo wir leben und arbeiten, mit anpackt.
2012 haben die Mitgliedstaaten der Europäischen Region „Gesundheit 2020“ als Rahmenkonzept und Gesundheitsstrategie für das 21. Jahrhundert angenommen. Eine der vier darin genannten Prioritäten ist die Schaffung widerstandsfähiger Gemeinschaften und stützender Umfelder. „Gesundheit 2020“ beruht auf dem Verständnis, dass weitere gesundheitliche Fortschritte nach den Erfolgen des vergangenen Jahrhunderts nur zu erreichen sind, wenn die grundlegenden ökologischen und sozialen Determinanten der Gesundheit in Angriff genommen werden durch einen Ansatz, der Ungleichheiten aufgreift, eine bessere und wirksamere Steuerung ermöglicht, die Zusammenarbeit aller gesellschaftlicher Sektoren fördert und den Ausbau des grundlegenden öffentlichen Gesundheitswesens verfolgt. Hierbei geht das zentrale Menschenrecht auf Gesundheit Hand in Hand mit der Vorstellung von der ökologischen Gerechtigkeit. Das Handeln für Umwelt und Gesundheit in Europa wird von „Gesundheit 2020“ stark profitieren, doch hängt umgekehrt deren Erfolg auch vom künftigen Gelingen des Prozesses Umwelt und Gesundheit ab.
Meine Damen und Herren,
in einer sich verändernden Welt ist sektorübergreifende Zusammenarbeit wichtiger denn je. In einer Welt gegenseitiger Abhängigkeiten brauchen wir einander für den Erfolg.
Wir brauchen das volle und sinnvolle Engagement eines bzw. einer jeden. Hier spielen HEAL und Organisationen wie die Ihrige eine zentrale Rolle. In der globalisierten und offenen Welt von heute funktionieren die Dinge nicht ohne breite Beteiligung der Menschen bzw. sinnvolle Beteiligung der Organisationen, die eine große Vielfalt an Akteuren repräsentieren. Das bedeutet, dass die Bürger nicht nur Empfänger der Gesundheitspolitik, sondern auch aktive Mitgestalter und Ausführende sind.
Der Prozess Umwelt und Gesundheit in Europa verlief von Anfang an in Anerkenntnis dieser wichtigen Grundvoraussetzungen und brachte immer alle Akteure in ihrer angemessenen Rolle an einen Tisch. Auch hierdurch war dieser Prozess so vorbildlich.
Doch vielleicht erwarten Sie von mir jetzt noch eine kluge Bemerkung dazu, wohin wir gehen und worauf wir unser Augenmerk in Zukunft richten sollten.
Ich bin keine Wahrsagerin, doch sagen uns alle Erkenntnisse, dass uns die heute großen Herausforderungen für die öffentliche Gesundheit (Luftbeschaffenheit, Klimawandel sowie die sichere Handhabung von Chemikalien und eine hinreichende, verlässliche und sichere Wasser-, Lebensmittel- und Energieversorgung) auch noch in einer Welt von morgen beschäftigen werden, die durch Bevölkerungswachstum, Verstädterung, längere Lebenserwartung sowie Wirtschaftswachstum und Wohlstand gekennzeichnet sein wird. Ebenso offensichtlich ist es die Aufgabe der Gesundheitspolitik, für sichere, chancengleiche und die Gesundheit schützende wie fördernde Lebensbedingungen in dieser sich rapide verändernden Welt zu sorgen. Die Bewältigung der ökologischen Determinanten ist eine der wichtigsten Interventionen zur Prävention von Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und anderen nichtübertragbaren Krankheiten, welche die gesundheitspolitische Agenda beherrschen. Auf der Umweltseite besteht die einschüchternde und zugleich wichtigste Aufgabe darin, die Herausforderung einer nachhaltigen Entwicklung nicht nur richtig zu verstehen, sondern für die kommenden Generationen auch richtig anzupacken.
Auch hier treffen Umwelt und Gesundheit aufeinander. Und auch wir müssen uns hier treffen, trotz unserer scheinbar verschiedenen Aufgaben und Zuständigkeiten.
Ich wünsche HEAL noch viele Jahre einer guten und fruchtbaren Zusammenarbeit mit der WHO und Ihnen allen, meine Damen und Herren, einen angenehmen Tag.
Ich danke Ihnen.