Ansprache beim Rat für Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz des Rats der Europäischen Union

Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa

6. März 2020

Vielen Dank, Herr Vorsitzender, sehr geehrte Kommissarinnen und Kommissare. Es ist für die WHO eine große Ehre, zu dieser Tagung eingeladen worden zu sein, und ein klares Bekenntnis zu unserer wertvollen Zusammenarbeit mit der Europäischen Union (EU) und den von uns geleisteten Beiträgen. Zunächst einmal möchte ich den Menschen in Europa, die sich um ihre Gesundheit und die Gesundheit ihrer Familien sorgen, meine aufrichtige Empathie aussprechen. Als Facharzt für Infektionskrankheiten habe ich dafür durchaus Verständnis. Doch gleichzeitig ist es wichtig, dass wir alle einen gesunden Menschenverstand bewahren und eine Panik vermeiden.

Mit Stand heute Morgen gab es weltweit in 87 Ländern insgesamt 98 023 Fälle von COVID-19 und 3380 Todesfälle, von denen mehr als 90% noch immer in China gemeldet werden. Diese Zahlen decken sich ziemlich genau mit jenen, die uns von der Direktorin des Europäischen Zentrums für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten (ECDC) genannt wurden. Seit der letzten Woche übersteigt jedoch die Zahl der täglich gemeldeten Fälle außerhalb Chinas jene der aus China gemeldeten Fälle. Achtzig Prozent dieser Fälle sind in vier Ländern zu verzeichnen: der Republik Korea, der Islamischen Republik Iran, Italien und Japan.

Ich möchte darauf hinweisen, dass die Übertragungswege in jedem dieser Länder unterschiedlich sind. Man kann nicht alle Fälle über einen Kamm scheren, und daher rät die WHO den Ländern zur Ergreifung von Maßnahmen für drei unterschiedliche Szenarien – die drei Cs: erster Fall (first case), erstes gehäuftes Auftreten (first cluster), erste Anzeichen einer Mensch-zu-Mensch-Übertragung (first evidence of community transmission).

Die erforderlichen Mindestmaßnahmen sind für jedes Szenario die gleichen, doch der Schwerpunkt ändert sich, je nachdem, mit welchem Szenario das betreffende Land zu kämpfen hat. Die WHO ist der Ansicht, dass die Eindämmung der Krankheit unter allen Umständen Vorrang haben sollte, während die Länder sich auf eine anhaltende Mensch-zu-Mensch-Übertragung vorbereiten. Daher schlagen wir einen umfassenden Ansatz vor. Die von den Ländern jetzt ergriffenen Maßnahmen in Vorbereitung auf die möglichen Szenarien werden den Verlauf des Ausbruchs bestimmen.

Ich fordere Sie nachdrücklich dazu auf, frühzeitig angemessene Maßnahmen zu ergreifen, um Gesundheitsfachkräfte zu schützen, Gemeinschaften in den Schutz der am stärksten gefährdeten Menschen einzubeziehen und die am stärksten gefährdeten Länder zu unterstützen, während gleichzeitig Epidemien in Ländern eingedämmt werden sollten, die über entsprechende Kapazitäten verfügen. Die gesundheitspolitische Zukunftsvision der WHO für die Europäische Region, das Europäische Arbeitsprogramm – Gemeinsam für mehr Gesundheit in Europa, verfolgt zwei Ziele: 1) niemanden zurücklassen und 2) Stärkung der Führungskompetenz der Gesundheitsbehörden. Und genau das tun wir zurzeit für unsere Mitgliedstaaten.

Im Hinblick auf die Verwirklichung des ersten Ziels – niemanden zurücklassen – wird das WHO-Regionalbüro für Europa auch weiterhin als Brücke zwischen den Ländern in der gesamten Europäischen Region der WHO dienen. Hierzu zählen die Europäische Union, aber auch 26 Länder in West-, Zentral- und Osteuropas sowie die Länder Zentralasiens, die über lange Grenzen mit China verfügen und denen ich erst kürzlich einen Besuch abgestattet habe. Diese Woche fanden in Kopenhagen eine Informationsveranstaltung für alle Botschafter der Region sowie drei aufeinanderfolgende Informationsveranstaltungen für die Minister der 53 Mitgliedstaaten im Wege von Videokonferenzen je Subregion statt, um unsere Unterstützung besser auf die Mitgliedstaaten ausrichten zu können.

In der Europäischen Region der WHO arbeiten wir eng mit jedem einzelnen Land zusammen und rücken gleichzeitig die am stärksten gefährdeten Länder mit Hilfe unserer WHO-Länderbüros in den Mittelpunkt. Wir haben Experten in Länder der EU, Zentralasiens, des Balkans und des Südkaukasus entsandt, um die Handlungsbereitschaft in den Ländern zu unterstützen. An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich die Führungskompetenz des italienischen Gesundheitsministers, Herrn Speranza, würdigen, mit dem wir als Ergebnis einer gemeinsamen Mission von WHO und ECDC die Entsendung leitender Berater ins Gesundheitsministerium in Rom und die Ausweitung der Kapazitäten zur Notfallvorsorge in den italienischen Regionen aus dem WHO-Büro Venedig heraus vereinbart haben. In diesem Zusammenhang möchte ich auch Dr. Mantoan, dem Generaldirektor für Gesundheit der Region Veneto, herzlich für seine Führungskompetenz danken. Gegenwärtig werden Krisenreaktionsteams zur Entsendung nach Aserbaidschan, Montenegro und in die Ukraine zusammengestellt, welche die nationalen Behörden in den kritischen Bereichen – wie Risikokommunikation, Surveillance, Bereitschaftsplanung in Krankenhäusern, klinisches Management und Infektionsprävention und -bekämpfung – unterstützen sollen.

Ich möchte an dieser Stelle hervorheben, dass wir bereitstehen, um jedes Land bei der Ausarbeitung nationaler Pläne zu unterstützen. In Krisenzeiten wie diesen müssen wir zeigen, was die Maxime „niemanden zurücklassen“ wirklich bedeutet. Wir müssen Menschenrechte schützen und gegen Stigmatisierung und Diskriminierung vorgehen. Dieser Ausbruch unterscheidet nicht zwischen Rassen oder Nationalitäten. Und das sollten auch wir nicht bei unseren Gegenmaßnahmen. Diese Erkrankung betrifft insbesondere Menschen in prekären Situationen – etwa ältere Menschen. Diese sollten im Zentrum unserer Schutzmaßnahmen stehen. Es bedeutet jedoch auch, keine gefährdeten Bevölkerungsgruppen zurückzulassen, etwa Migranten und Flüchtlinge, die Opfer verschiedener Probleme wie Fake News oder Atemwegsinfektionen werden können und sich gleichzeitig gravierenden Hindernissen beim Zugang zur allgemeinen Gesundheitsversorgung gegenübersehen.

Was die Verwirklichung des zweiten Ziels – die Stärkung der Führungskompetenz der Gesundheitsbehörden – angeht, geht es darum, die bestmöglichen derzeit verfügbaren Erkenntnisse zur Vorbereitung auf und Bewältigung dieses Ausbruchs zur Verfügung zu stellen, denn jeden Tag lernen wir ein bisschen mehr darüber. Es bedeutet jedoch auch, Sie beim Ansetzen an den grundlegenden Ursachen des Vertrauensverlustes der Bürger gegenüber Pflegekräften und Gesundheitsbehörden zu unterstützen, und dazu zählt etwa die Zusammenarbeit mit den Medien im Kampf gegen die Infodemie.

In dieser Hinsicht möchte ich erneut den ehrenwerten Gesundheitsminister von Italien für die Einberufung einer Pressekonferenz mit der Europäischen Kommissarin, dem ECDC und der WHO in der letzten Woche in Rom würdigen. Er hat es geschafft, gesunden Menschenverstand in die Debatte um COVID-19 zu bringen. Ich zolle dem italienischen Minister für dies und allen Mitgliedstaaten für den transparenten Informationsaustausch meine Anerkennung. Dieser ist von entscheidender Bedeutung, um ein besseres Verständnis für diesen Ausbruch zu gewinnen und besser in der Lage zu sein, die Gegenmaßnahmen zu unterstützen. Tatsächlich ist Italien nun zu einem Forum der Europäischen Region für die Wissensgenerierung zu COVID-19 geworden.

Sehr geehrte Damen und Herren, wir wissen, dass dieses Virus sich erheblich auf das öffentliche Gesundheitswesen, die Wirtschaft sowie soziale und politische Fragen auswirkt. Ich möchte Sie daran erinnern, dass die WHO auch weiterhin davon abrät, Reise- bzw. Handelsbeschränkungen für Länder zu verhängen, die von einem Ausbruch betroffen sind. Dies könnte Ressourcen von anderen Interventionen abziehen und negative soziale wie auch wirtschaftliche Auswirkungen für die betroffenen Länder haben. Jetzt ist Solidarität und Kooperation gefragt, um diese tödliche Krankheit zu bekämpfen.

Wir stehen nicht allein; unsere hervorragende Zusammenarbeit mit der Europäischen Kommission und den EU-Institutionen – insbesondere dem ECDC – gewährleistet Ihnen, den EU-Mitgliedstaaten, eine kohärente und vollständig abgestimmte gemeinsame Unterstützung. Ich möchte den EU-Experten danken, die bei der Bekämpfung von COVID-19 eine aktive Rolle übernehmen. Insbesondere möchte ich der Kommissarin, Dr. Stella Kyriakides, meinen Dank für den täglichen Austausch über Strategien und operative Tätigkeiten zum Ausdruck bringen. Dies ist in der Tat eine neue Ära der Zusammenarbeit zwischen Europäischer Kommission und WHO, zum Nutzen von Ihnen, den Mitgliedstaaten. Zudem möchte ich Ihnen für die finanzielle Unterstützung des Strategieplans für Vorsorge- und Bekämpfungsmaßnahmen der WHO sowie des Notfallfonds der WHO danken.

Wir arbeiten weltweit mit Staaten, Industrie und dem Pandemic Supply Chain Network zusammen, um den Schutz zu stärken und Zuweisungen für die am stärksten betroffenen und gefährdeten Länder zu sichern. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf den kürzlich veröffentlichen WHO-Leitfaden richten, in dem der rationelle und angemessene Gebrauch persönlicher Schutzausrüstung (PPE) in Einrichtungen des Gesundheitswesens gefordert wird. Ferner bitte ich Sie erneut um Ihre Unterstützung bei unseren Bemühungen um die Entwicklung von Anreizen für die Industrie, die Produktion hochzufahren. Hierzu zählen etwa die Lockerung von Beschränkungen für Export und Verbreitung von PPE und anderen medizinischen Hilfsgütern.

Wir sitzen alle im selben Boot. Letztendlich ist dies eine umfassende Belastungsprobe. Es ist eine Belastungsprobe für den europäischen Wert der Solidarität, aber auch für unsere persönliche, psychologische Widerstandsfähigkeit. Wie wir diese Belastungsprobe meistern, wird die europäische Führungsrolle in der heutigen Zeit bestimmen. Sie können auf die WHO zählen. Ich danke Ihnen.