Erklärung – Verhaltensbezogene Erkenntnisse sind wertvoll für die Planung angemessener Maßnahmen für die Pandemiebekämpfung

Kopenhagen, 14. Mai 2020, Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa

Presseerklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa

Kopenhagen, 14. Mai 2020

Guten Morgen.

Es ist mir eine Freude, heute zu Ihnen zu sprechen.

In der gesamten Europäischen Region können wir eine Verlangsamung der Pandemie beobachten.

Doch trotz der positiven Anzeichen ist dies weiterhin eine Zeit der Trauer für viele in der Region. Meine Gedanken sind bei Ihnen.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt beläuft sich die Zahl der bestätigten Fälle in der Region auf 1,78 Millionen und die Zahl der Todesfälle auf 160 000. Dies macht 43% aller Fälle und 56% aller Todesfälle weltweit aus.

Die Russische Föderation, das Vereinigte Königreich und Spanien sind weiterhin unter den 10 Ländern weltweit, die in den letzten 24 Stunden die höchsten Fallzahlen verzeichneten.

Auch wenn das Risiko in allen Ländern der Europäischen Region weiterhin sehr hoch ist, ist es der Osten der Region, in dem wir weiterhin steigende Fallzahlen beobachten.

Es sind 16 Wochen vergangen, seit uns die ersten Fälle des neuartigen Coronavirus in der Europäischen Region gemeldet wurden. Um seine exponentielle Ausbreitung zu prüfen und für unsere Gesundheitssysteme wertvolle Zeit zu gewinnen, führten die Länder nie dagewesene Beschränkungen für soziale Interaktionen und die individuelle Bewegungsfreiheit ein. Das Leben, wie wir es kannten, wurde auf Eis gelegt. Für die Älteren, die Jungen, jene, die ihr Einkommen und ihre Jobs verloren, für jene mit Ängsten, für Menschen in Behandlung und für uns alle ist dies bis heute eine schwere Belastung, und die Zukunft ist ungewiss. Trotz alledem konnten wir ein unglaubliches Maß an Solidarität im Verhalten der Menschen und in den Gemeinschaften beobachten.

Auch heute, während in 39 Ländern in der Europäischen Region die Beschränkungen allmählich gelockert werden, bleibt unser Verhalten so wichtig wie zuvor. Kurz gesagt: Unser Verhalten, unsere Entscheidungen bestimmen, wohin der Weg führt und wo er endet.

Ich habe am heutigen Tag drei Botschaften für Sie.

  • Erstens: Es gibt keinen Anlass zur Sorglosigkeit – bleiben Sie wachsam.
  • Zweitens: Die Behörden müssen der Öffentlichkeit zuhören und entsprechende Anpassungen in Echtzeit vornehmen.
  • Drittens: Verhalten Sie sich verantwortungsbewusst – wir alle tragen zum Verlauf dieser Pandemie bei.

Zu meiner ersten Botschaft des heutigen Tages: Wir müssen wachsam bleiben.

In den vergangenen Wochen sind an Orten, an denen das Virus scheinbar verschwunden war – wie in Wuhan und der Republik Korea – wieder Cluster neuer Krankheitsfälle aufgetreten. Dies sollte uns als rechtzeitige Mahnung dienen, dass die Bedrohung eines Wiederaufflammen des Virus niemals weit entfernt ist. Wachsamkeit und eine kontinuierliche Entschlossenheit, dieses Virus in Schach zu halten, sind während Hochzeiten der Übertragung ebenso erforderlich wie während der Lockerung von Beschränkungen.

Bis dass uns für alle Menschen ein Impfstoff oder Behandlungsmethoden zur Verfügung stehen, erfordert die Eindämmung des Virus eine Partnerschaft von Menschen und politischen Entscheidungsträgern – einen Gesellschaftsvertrag, der weit über die Kontrollmöglichkeiten von Regierungsbeamten oder führenden Politikern hinausgeht. Es ist an der gesamten Gesellschaft, wachsam zu bleiben.

Dies bringt mich zu meiner zweiten Botschaft: Regierungen und Behörden sollten Möglichkeiten nutzen, wie sie ihrer Bevölkerung zuhören, deren Vertrauen gewinnen und vor diesem Hintergrund entsprechende Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung planen können.

Die Lage kann sich rasch verändern. Besser zu verstehen, wie, warum und in welchem Kontext Menschen und Gemeinschaften auf unterschiedliche Interventionen zur Bekämpfung der Pandemie reagieren, kann bei Regierungsentscheidungen, der Gestaltung der Kommunikation und der Planung von Maßnahmen behilflich sein und sollte entsprechende Berücksichtigung finden.

Aus diesem Grund haben wir hier beim WHO-Regionalbüro für Europa ein Instrument zur Durchführung regelmäßiger Umfragen entwickelt, um mehr über die Bedürfnisse und Sorgen der Menschen in Zeiten der gegenwärtigen COVID-19-Krise zu erfahren. Dieses Instrument wird bereits von 20 Ländern in unserer Region genutzt sowie von mindestens 20 weiteren Ländern außerhalb der Europäischen Region. Die Ergebnisse sind aufschlussreich.

Nehmen wir Deutschland als Beispiel. Seit Anfang März hat das Land wöchentliche Umfragen durchgeführt. Die Ergebnisse zeigen, dass nach wie vor große Besorgnis in der Bevölkerung über die wirtschaftlichen Konsequenzen der Beschränkungen herrscht. Dem entgegen steht die nachlassende Besorgnis über und die sinkende Risikowahrnehmung bezüglich des Virus selbst sowie die nachlassende Einhaltung der empfohlenen Verhaltensweisen. Die durch die Umfragen generierten gesellschaftlichen Daten halfen bei der Verbesserung der Angebote zur Förderung der psychischen Gesundheit während dieser Krise, der Entwicklung von Materialien für Familien und Kinder, der Entwicklung von Inhalten für Webseiten für ältere Menschen, der Bereitstellung von Inhalten für junge Menschen und Dating sowie bei der Entwicklung konkreter Informationen zur richtigen Handhabung, Instandhaltung und Reinigung von Gesichtsmasken.

In den Niederlanden wurde durch die soziale Umfrage eine hohe Bereitschaft zur Einhaltung von Quarantäne- und Isoliationsvorgaben festgestellt, aber auch, dass junge Männer am wenigsten gewillt sind, sich an entsprechende Vorgaben zu halten. Darüber hinaus ergaben die Untersuchungen, dass (niederländische) Kinder aus benachteiligten Familien stärker unter den Schulschließungen leiden und eine gesonderte Betreuung nach der Wiedereröffnung erfahren sollten.

Die Regierung des Vereinigten Königreichs setzte eine Beratergruppe ein, die Wissenschaftliche Gruppe für Verhaltensforschung in Verbindung mit der pandemischen Influenza, und das Gesundheitsministerium des Vereinigten Königreichs führt jede Woche Umfragen zu Haltungen und Bewusstsein durch, zu denen auch Verhaltensforscher und psychologische Wissenschaftler beitragen.

Eine ganze Reihe von Institutionen und Zentren in allen Teilen Europas betrachtet, wie die Verhaltensforschung bei der Bekämpfung von COVID-19 behilflich sein kann. Unter ihnen ist auch das Institut für Wirtschafts- und Sozialforschung in Irland, das herausgefunden hat, dass die Einhaltung von Maßnahmen am wahrscheinlichsten ist, wenn es eine eindeutige und regelmäßige Kommunikation, eine starke Gruppenidentität und gesellschaftliche Missbilligung gegenüber jenen gibt, die sich nicht an die Maßnahmen halten. Dies wirkt sich natürlich auch auf die Sprache, die Führungsrollen und die alltägliche soziale Interaktion aus, die über den Erfolg oder Misserfolg und die Wirkung der staatlichen Politik oder Maßnahmen entscheiden können.

Immer mehr Länder stehen kurz davor, mit Unterstützung der WHO regelmäßige Umfragen durchzuführen, darunter etwa Albanien, Aserbaidschan, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Kasachstan, Kirgisistan, die Russische Föderation und die Ukraine. Und während diese Länder allmählich in die Übergangsphase eintreten und ihre Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung anpassen, werden die gewonnenen Erkenntnisse äußerst wertvoll für die Entscheidungsfindung und die Gewährleistung der Angemessenheit dieser Maßnahmen sein.

Meine dritte Botschaft ist folgende: Wir alle spielen eine wichtige Rolle, um das Virus in Schach zu halten.

Wir befinden uns nun an einem Scheideweg. Dies ist der Punkt, an dem unsere Handlungen und individuellen Verhaltensweisen bestimmen, welchen Weg wir einschlagen: jener, der uns in eine neue Normalität führt, oder jener, der uns zurück zur Einschränkung unserer Bewegungsfreiheit und unserer sozialen Interaktion führt.

Die Müdigkeit gegenüber dieser Notlage bedroht die wichtigen Erfolge, die wir im Kampf gegen das Virus verbuchen konnten. Berichte über Misstrauen gegenüber den Behörden und sich verbreitende Verschwörungstheorien beflügeln die Bewegungen gegen soziale und räumliche Distanzwahrung. Andere verhalten sich übervorsichtig, wodurch etwa ihre soziale Interaktion und ihr Zugang zu Gesundheitsangeboten weiter eingeschränkt wird. Misstrauen, Widerstand gegenüber den ergriffenen Maßnahmen, eine Missachtung der uns allen zur Eindämmung von COVID-19 auferlegten Verhaltensänderungen führen uns auf einen Weg, den niemand von uns einschlagen möchte.

Vereinfacht gesagt wird unser Verhalten heute den weiteren Verlauf der Pandemie bestimmen.

Wenn die Regierungen die Beschränkungen aufheben, ist es an Ihnen, der Bevölkerung, die Rolle der wichtigsten Akteure zu übernehmen. Es liegt in der Verantwortung jedes Einzelnen und der Gemeinschaft. Befolgen Sie die Empfehlungen Ihrer nationalen Behörden, beschränken Sie Ihre soziale Interaktion, waschen Sie weiterhin regelmäßig Ihre Hände, halten Sie Abstand zu anderen und verringern Sie das Risiko für die am stärksten Gefährdeten in unserer Gesellschaft, die Älteren und jene mit chronischen Vorerkrankungen. Sie verlassen sich auf die von Ihnen getroffenen Entscheidungen.

Noch einmal möchte ich meine drei Botschaften von heute wiederholen:

  • Erstens – An die Gemeinschaften: Bleiben Sie wachsam und schützen Sie das bereits Erreichte. Unsere Sorglosigkeit ist für COVID-19 ein gefundenes Fressen.
  • Zweitens – An die Politiker: Bleiben Sie in Bezug auf das Verhalten der Menschen auf dem Laufenden – hören Sie zu, lernen Sie daraus und passen Sie Ihre Maßnahmen entsprechend an.
  • Drittens – An uns alle: Wir alle spielen eine wichtige Rolle, um COVID-19 in Schach zu halten. Unser Verhalten bestimmt das Verhalten des Virus.

Es liegt nun in unserer Verantwortung.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.