Erklärung – Wo stehen wir heute bei COVID-19, und was haben wir gelernt?

Kopenhagen, 8. April 2020, Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa

Erklärung von Dr. Hans Henri P. Kluge, WHO-Regionaldirektor für Europa, an die Presse

Kopenhagen, 8. April 2020

Guten Morgen.

Die Zahlen

Heute sind wir in der fünfzehnten Woche unseres weltweiten Kampfes gegen das neuartige Coronavirus. Die ersten Fälle in der Europäischen Region wurden am 24. Januar 2020 gemeldet. Angesichts der zwischenzeitlich eingetretenen umwälzenden Veränderungen möchte ich diese Gelegenheit ergreifen, um ausführlicher über die aktuelle epidemiologische Situation und sich abzeichnende Trends in den 53 Ländern der Europäischen Region der WHO zu berichten. Außerdem werde ich darauf eingehen, was wir über das Virus gelernt haben und wie die Maßnahmen zu seiner Bekämpfung voranschreiten.

Europa steht nach wie vor im Mittelpunkt der Pandemie, und auch wenn es gute Gründe für Optimismus gibt, so haben wir doch auch Grund zur Besorgnis.

Aus allen Teilen der Europäischen Region werden neue bestätigte Fälle gemeldet. So beträgt die Gesamtzahl der im Labor bestätigten Fälle mit Stand von heute Vormittag 687 236, davon leider 52 824 mit tödlichem Ausgang. Diese Daten stammen aus 53 Ländern und 7 Gebieten. Wir stellen fest, dass inzwischen in vielen Ländern eine Übertragung in der Bevölkerung stattfindet.

Die Fälle in der Europäischen Region machen etwa die Hälfte aller Fälle weltweit aus, und die globalen Fallzahlen haben sich exponentiell erhöht. Dieser steile Anstieg ist insbesondere auf die Ausbreitung der Krankheit in den Vereinigten Staaten zurückzuführen, die inzwischen die höchsten Fallzahlen weltweit verzeichnen.

Doch die dramatische Zunahme der Fälle auf der anderen Seite des Atlantiks verschleiert ein nach wie vor äußerst besorgniserregendes Bild in Europa: Denn sieben der zehn am stärksten betroffenen Länder weltweit gehören zur Europäischen Region: Nach den USA rangieren auf den nächsten Plätzen Spanien, Italien, Deutschland und Frankreich, und dann nach China und dem Iran das Vereinigte Königreich, die Türkei und die Schweiz.

Wir stellen auch fest, dass manche Länder eine teilweise deutlich höhere Mortalität aufgrund aller Ursachen verzeichnen. Dies ist beispielsweise in Italien, Spanien, dem Vereinigten Königreich, Belgien und der Schweiz der Fall. Dieser unerwartete Anstieg ist vor allem in der Altersgruppe über 65 Jahre zu beobachten und sagt etwas über die COVID-19-Aktivität seit Mitte März aus.

Die Länder

Überall in der Europäischen Region haben Regierungen auf COVID-19 mit Interventionen reagiert, die in unterschiedlichem Maße mit Einschränkungen für das öffentliche Leben sowie für Schulen und Arbeitsplätze verbunden sind. Vor Ort können wir konkret zwei Trends feststellen:

In einigen der Länder mit Übertragung in der Bevölkerung gibt es erste Anzeichen für eine Verlangsamung der Zahl neuer Fälle, nachdem zuvor eine Kombination aus Maßnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens und klinischen Interventionen eingeführt worden war.

Andere Länder dagegen verzeichnen einen rapiden Anstieg der Fallzahlen oder eine zweite Welle.

Was ersteren Trend betrifft, so weist Spanien inzwischen höhere Fallzahlen auf als Italien. Doch hat sich nun, etwa 15 bis 20 Tage nach Verhängung diverser Beschränkungen, die Zunahme der Fallzahlen verlangsamt, und auch die Rate der neuen Todesfälle ist offenbar rückläufig. Die WHO hat gerade eine Mission in das Land abgeschlossen; im weiteren Verlauf dieser Veranstaltung wird uns mein Kollege, Dr. Bruce Aylward, Leitender Berater des Generaldirektors, der an der Spitze dieser Mission stand, von seinen Eindrücken berichten.

In Italien sieht es nach Wochen weitreichender Ausgangsbeschränkungen so aus, als habe sich der Anstieg der Fallzahlen deutlich verlangsamt.

Doch auch innerhalb von Ländern sind die Fälle nicht gleichmäßig verteilt. So tragen in Italien die Lombardei und in Spanien Madrid jeweils die Hauptlast der Pandemie. Glücklicherweise nimmt die Zahl der täglichen Todesfälle in beiden Regionen inzwischen ab.

In Deutschland begannen die Fallzahlen zehn Tage nach Verhängung weitreichender gesundheitlicher und sozialer Maßnahmen zu sinken. Die Mortalitätsraten und der Altersmedian der bestätigten Fälle in Deutschland liegen niedriger als der Durchschnitt in anderen Ländern. Dies hat mit einer Reihe von Faktoren zu tun, u. a. der Altersstruktur der Bevölkerung und der hohen Zahl der durchgeführten Tests.

Weitere gute Fortschritte lassen sich in Ländern wie Österreich, den Niederlanden und der Schweiz beobachten.

Tief besorgt sind wir dagegen über die dramatische Zunahme der Ausbreitung des Virus in der Türkei im Laufe der vergangenen Woche. Dabei wurden 60% der Fälle aus Istanbul gemeldet. Auch in Israel, der Ukraine, Belgien und Norwegen steigt die Zahl der Fälle. In Schweden ist es zu einer zweiten Welle gekommen.

Das Virus

Lassen Sie mich nun darauf zu sprechen kommen, was wir über das Virus wissen. Die in den Ländern der Europäischen Region der WHO ergriffenen Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie verschaffen uns nützliche Informationen, anhand derer wir Vergleiche zwischen der Entwicklung des Virus in Europa und in China anstellen können. Wir wissen inzwischen, dass sich das Virus gleich verhält; damit erfahren wir auch mehr darüber, wie es sich wirksam bekämpfen lässt.

Mit dem Virus infizieren sich alle Altersgruppen, wobei jedoch Kinder unter 15 Jahren verhältnismäßig seltener betroffen sind. Doch die Krankheitslast ist bei älteren Menschen höher, vor allem bei Männern und bei Personen mit Vorerkrankungen.

Jeder Todesfall infolge dieses Virus ist eine Tragödie. Meine Gedanken und mein Mitgefühl sind bei all jenen, die Angehörige verloren haben oder selbst schwer erkrankt sind. Obwohl Erwachsene in der Altersgruppe über 60 Jahre in Bezug auf Komplikationen ein höheres Risiko tragen, zeigen doch der Tod eines fünfjährigen Kindes im Vereinigten Königreich und eines zwölfjährigen Kindes in Belgien, dass in seltenen Fällen die Krankheit auch bei Kindern und jüngeren Erwachsenen tödlich enden kann.

Auch wenn die Mehrzahl der Fälle mit milder Symptomatik verlaufen, enden fast 40% mit einer Einlieferung ins Krankenhaus, während 5% eine Behandlung auf der Intensivstation erfordern.

Unter denen, die bedauerlicherweise ihr Leben verloren haben, waren zwei Drittel Männer, und über 95% in der Altersgruppe über 60 Jahre. Die meisten dieser Personen hatten eine oder mehrere Vorerkrankungen: Herz-Kreislauf-Erkrankungen (66%), Diabetes (29%) und Nierenerkrankungen (21%).

Die Reaktion

Die gewonnenen Erkenntnisse über COVID-19 und die erfreulichen Anzeichen aus einigen Ländern stellen noch keinen Sieg dar, sondern bieten uns eine seltene Chance, das Virus allmählich in den Griff zu bekommen. Es ist jetzt nicht die Zeit, die ergriffenen Maßnahmen zu lockern. Vielmehr lautet das Gebot der Stunde, unsere gemeinsamen Anstrengungen nochmals zu verdoppeln, um mit der vollen Unterstützung der Gesellschaft auf eine Unterdrückung des Virus hinzuarbeiten.

Deshalb appelliere ich an alle Länder unabhängig von ihrer Übertragungssituation, ihre Bemühungen in folgenden drei Bereichen zu verstärken:

Erstens müssen wir Gesundheitspersonal und Leistungsangebot auf allen Ebenen schützen und stärken, um Menschenleben zu retten. Das Gesundheitspersonal bildet das Rückgrat unserer Gesundheitssysteme – dies gilt heute mehr als je zuvor. Wir stehen gegenüber all jenen in der Schuld, die an COVID-19 erkrankte Menschen Tag und Nacht versorgen oder andere unentbehrliche Gesundheitsangebote aufrechterhalten.

Um die COVID-19-Pandemie zu beenden, gilt es nun:

  • das Gesundheitspersonal angemessen zu schulen und vorzubereiten, damit sie Bürger und Gesellschaft mit zuverlässigen und geeigneten Informationen und Gesundheitsleistungen versorgen können;
  • ihre körperliche Gesundheit zu schützen und auch vorrangig über ihre psychische Gesundheit zu wachen; und
  • dafür Sorge zu tragen, dass sie die benötigte Unterstützung erhalten, damit ihre familiären Verpflichtungen nicht auf der Strecke bleiben.

Der gestrige Weltgesundheitstag bot eine Gelegenheit, die Arbeit von Pflegekräften und Hebammen in aller Welt lobend anzuerkennen. Ihnen und auch all jenen, die unermüdlich an vorderster Linie im Einsatz sind, möchte ich nochmals für ihren Mut und ihre Entschlossenheit danken. Sie zu schützen und angemessen zu schulen und ihnen die benötigte Schutzkleidung und Unterstützung zukommen zu lassen, muss unsere oberste Priorität sein.

Ich kann es nicht besser ausdrücken als Laura, die vor kurzem ihre Ausbildung als Krankenschwester in der italienischen Region Abruzzo abgeschlossen hat. Wörtlich sagte sie:

„Für die Zukunft .... wünsche ich mir, dass entlassene Patienten sagen: ,Ich habe COVID-19 überlebt‘. Das motiviert mich und lässt mich durchhalten. Wir werden alles Menschenmögliche tun, um diese Situation gemeinsam zu bewältigen, und wir werden es schaffen – wir müssen. Unterschätzen Sie uns Pflegekräfte nie. Wir bitten Sie nur um eines: bleiben Sie für uns zuhause. Wir bleiben für Sie an der Arbeit.“

In jedem Land unserer Region gibt es Menschen wie Laura, und wir danken Ihnen allen für Ihren heroischen Einsatz.

Damit wäre ich bei dem zweiten Bereich angelangt, den wir stärken müssen. Es kommt entscheidend darauf an, dass wir den Motor dieser Pandemie abwürgen, indem wir die Gesunden von den Verdachtsfällen und den wahrscheinlichen Fällen trennen. Dazu ist die konsequente Durchführung umfassender und frühzeitiger Maßnahmen der öffentlichen Gesundheitsdienste erforderlich: von der Isolation von Fällen über Tests und die Ermittlung von Kontaktpersonen und bis zu Quarantänemaßnahmen. Diese Maßnahmen müssen aufrechterhalten werden, um die weitere Ausbreitung von COVID-19 zu verzögern, zu verlangsamen und zu stoppen.

Drittens müssen die Regierungen und die zuständigen Behörden Weisungs- und Kontrollstrukturen und -funktionen aufrechterhalten und laufend mit der Bevölkerung kommunizieren und sie einbinden, um ihre Akzeptanz für die gegenwärtigen wie auch für etwaige künftige Maßnahmen zu gewinnen.

Noch zu früh für eine Übergangsstrategie

Die bisher vorliegenden Daten und Erkenntnisse verdeutlichen: Wir haben auf diesem Marathonlauf noch einen langen Weg vor uns, und die bisher erzielten Fortschritte bei der Bekämpfung des Virus sind äußerst fragil. Der Gedanke, dass wir uns dem Ende des Tunnels nähern, wäre gefährlich. Das Virus lässt uns keinen Spielraum für Fehler oder Untätigkeit; vielmehr müssen wir in allen Regionen, Ländern und Kommunen weiter entschlossen, energisch und wachsam vorgehen.

Jede Abweichung von unserer Strategie, die eine Lockerung der Ausgangsbeschränkungen oder der sozialen Distanzierung zur Folge hat, muss wohl überlegt sein. Sie kann nur in der Gewissheit erfolgen, dass wir genau Bescheid wissen, wie es um das Virus steht und wie unsere Gesundheitssysteme mit der Situation fertig werden. Um die Übertragung zu unterdrücken, müssen wir vor allem zumindest weiter umfassende Tests und Isolationsmaßnahmen durchführen und Kontaktpersonen ermitteln, aber auch generell vorausplanen, auch für die Zeit, in der die allgemeine soziale Distanzierung langsam und schrittweise aufgehoben wird. Dies ist von grundlegender Bedeutung.

Beim WHO-Regionalbüro für Europa ergreifen wir abgestimmte Maßnahmen zur Unterstützung der Regierungen bei diesen Entscheidungen, wenn sie die verschiedenen Phasen von Gegenmaßnahmen und letztlich Wiederaufbau durchlaufen. Wir werden uns bemühen, in Bezug auf die politischen, ökonomischen, sozialen, verhaltensbezogenen und gesundheitssystembezogenen Überlegungen und die Konsequenzen von strategischen Kursänderungen zu beraten. Ich werde am kommenden Dienstag den Strategischen Beirat der Europäischen Region zum Thema COVID-19 einberufen, um eine Bestandsaufnahme seiner Arbeit durchzuführen. Am Freitag nächster Woche werde ich unsere Empfehlungen mit den Gesundheitsministern der 53 Mitgliedstaaten in der Europäischen Region teilen.

Darüber hinaus werden wir in dieser Woche die vom Regionalbüro entwickelten Planungsinstrumente für den Notfallmodus veröffentlichen, um die Mitgliedstaaten bei der visuellen Darstellung des Kapazitätsbedarfs in der Akut- und Intensivversorgung im zeitlichen Verlauf und bei der Bestimmung der Schwere des Höhepunkts des Ausbruchs zu unterstützen. Dies wird durch Grundsatzempfehlungen ergänzt, wie Notfallkapazitäten in der Akut- und Intensivversorgung geschaffen werden können, aber auch durch nützliche Fallbeispiele aus den Ländern. Bei der Planung für den Notfallmodus setzen wir auf vier Elemente: Raum, Personal, Material und Systeme.

Ich habe noch einige andere Nachrichten für Sie:  Vor zwei Tagen haben wir in Belarus ein fachübergreifendes Team eingesetzt, um das Land bei seinen Notfallmaßnahmen mit Rat und Tat zu unterstützen. Außerdem kann ich erfreulicherweise vermelden, dass am 30. März ein medizinisches Notfallteam aus Polen gemäß dem Rahmen der WHO für medizinische Notfallteams nach Brescia in Norditalien entsandt wurde, um im dortigen Hauptkrankenhaus die Umwandlung der chirurgischen Station in die sechste Intensivstation in der Stadt zu unterstützen.

Niemanden zurücklassen

Solidarität, kollektive Verantwortung und Durchhaltevermögen sind jetzt mehr denn je das Gebot der Stunde, um das Virus zu besiegen und niemanden zurückzulassen.

Auch wenn wir wissen, dass Menschen mit Vorerkrankungen in besonderem Maße anfällig sind, so gibt es in der Europäischen Region doch auch viele andere Gruppen, die bei Ausbrüchen von Atemwegserkrankungen wie COVID-19 besonders gefährdet sind, da sie nur über einen begrenzten Zugang zur gesundheitlichen Grundversorgung, zu Gesundheitsinformationen und zu Gesundheitsförderungsmaßnahmen verfügen.

Flüchtlinge, Migranten und Vertriebene, Betroffene von humanitären Krisen, Häftlinge und Insassen von geschlossenen Einrichtungen, Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen, Waisen und Suchtkranke, Obdachlose und Menschen am Rande der Gesellschaft: sie alle sind Teil derselben Reaktion, verdienen aber zusätzliche Aufmerksamkeit aufgrund ihrer besonderen Bedürfnisse.

Viele dieser anfälligen Menschen können sich nicht so leicht an die empfohlenen Schutzmaßnahmen wie Handhygiene und Zuhausebleiben halten. Die gesundheitlichen Bedürfnisse von Obdachlosen müssen beachtet werden, und sie müssen auf COVID-19 getestet und ggf. behandelt werden und Zugang zu Lebensmitteln sowie ein Dach über dem Kopf erhalten. Wir müssen der Stigmatisierung Einhalt gebieten und denen, die uns brauchen, Solidarität entgegenbringen und dies gemeinsam durchstehen.

Wir können die Folgen von COVID-19 für einige dieser Gruppen bereits deutlich erkennen. Am 1. April hat Griechenland den ersten Fall von COVID-19 in einer Einrichtung für Flüchtlinge entdeckt, und seitdem wurden 23 weitere Flüchtlinge im Lager Ritsona positiv getestet. Das Lager, in dem zur Zeit über 2300 Menschen untergebracht sind, steht jetzt unter Quarantäne. Inzwischen wurden aus anderen Flüchtlingslagern weitere Fälle gemeldet und ähnliche Maßnahmen eingeleitet. Es ist unsere ethische Verpflichtung, ihnen Unterstützung anzubieten, getreu der Maxime, niemanden zurückzulassen.

Fazit

Diese Pandemie und ihre Auswirkungen auf unser Leben stellen eine Ausnahmesituation dar, doch jeder Tag und jede Minute zählt, wenn wir neue Erkenntnisse gewinnen, Wissen austauschen und Maßnahmen durchführen, um das Virus zu stoppen und unsere Gegenmaßnahmen wirksamer und nachhaltiger zu machen.

Das Virus kam in den dunklen Wochen des Winters zu uns. Viele von uns freuen sich darauf, nun Ostern zu feiern, mit besserem Wetter. Doch es ist jetzt nicht die Zeit, die Zügel schleifen zu lassen. Wir müssen weiter schuften. Denn wir sitzen zusammen im selben Boot und müssen dies gemeinsam durchstehen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.