Apostolos Veizis: An der Frontlinie der Flüchtlings- und Migrantenkrise in Griechenland
Seit 1996 leistet die humanitäre Organisation für medizinische Nothilfe Ärzte ohne Grenzen (MSF) aktive Unterstützung für Migranten in Griechenland. Apostolos Veizis ist Leiter der Einheit operative medizinische Unterstützung bei MSF in Griechenland. In dieser Eigenschaft steht er an der Frontlinie der aktuellen Flüchtlings- und Migrantenkrise in Europa. Hier berichtet er über seine Erfahrungen.
Seit der Schließung der Grenzen zwischen Griechenland und seinen europäischen Nachbarn im vergangenen Jahr hat sich die Lage völlig verändert. Die „Balkanroute“ von Griechenland über die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien nach Serbien wurde am 18. Februar 2016 offiziell geschlossen. Infolgedessen war den Menschen die Weiterreise aus Griechenland verwehrt. Der Zustrom auf die Inseln und das Festland hielt weiter an, doch der Abstrom wurde verhindert. Zur Unterbringung dieser Menschen wurden überall, auch auf den griechischen Inseln, Zeltlager errichtet. Aufgrund ihrer starken Ausbreitung in ganz Griechenland bezeichnen wir sie als „Pilzlager“. Derzeit gibt es etwa 50 solche Zeltlager, in denen mehr als 50 000 Menschen dicht gedrängt hausen und einfach nur warten.
Ich bin seit mehr als 15 Jahren in diesem Bereich tätig, habe in Europa jedoch noch nie eine so schlimme Situation erlebt. Manchmal denke ich, es ist nur ein böser Traum, doch ist eines der Zeltlager gerade 10 Kilometer von meinem Büro entfernt. Es ist also kein Traum, sondern Realität.
Nicht mehr auf der Durchreise, sondern gestrandet
Wenn man es nicht mit Durchreisenden, sondern mit einer Gruppe gestrandeter Menschen zu tun hat, ist alles anders. Früher kamen die Menschen nur kurz zu uns für rasche Gesundheitskontrollen; sie wollten keine Gesundheitsversorgung in Anspruch nehmen, da Griechenland für sie nur eine Durchgangsstation war, an der sie auf eine schnelle Weiterreise hofften. Nun müssen wir mit Untersuchungen auf Vorerkrankungen wie Depressionen, Angstzustände, posttraumatische Belastungsstörungen und andere Symptome im Bereich der psychischen Gesundheit sowie auf Schwangerschaften und Behinderungen beginnen. MSF befasst sich auch mit bestimmten Bereichen der Behandlung chronischer Erkrankungen.
Ich betreue die Beziehung zwischen MSF und dem humanitären und medizinischen Bereich in Griechenland, der Organisationen der Zivilgesellschaft, akademische und medizinische Einrichtungen, Forschungszentren und andere maßgebliche Akteure im gesamten Land umfasst. Meine Aufgabe ist es, zur Erschließung und späteren Realisierung von Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen MSF und ihren Partnern bei der Bereitstellung operativer medizinischer Unterstützung beizutragen. MSF erhielt auch die Genehmigung, in Griechenland Impfungen vorzunehmen, und erreichte mit diesen Maßnahmen 2016 landesweit 10 500 Kinder im Alter von 6 Monaten bis 17 Jahren.
2016 trat in Griechenland ein Gesetz in Kraft, das allen, die sich im Land aufhalten, freien Zugang zur Gesundheitsversorgung einräumt, so auch Asylsuchenden. Sowohl beim Zugang als auch bei den Kapazitäten sind jedoch noch immer zahlreiche Probleme festzustellen. Seit Mitte 2016 hat sich der Arbeitsschwerpunkt von MSF in Griechenland auf psychische Gesundheit, chronische Erkrankungen und die Versorgung im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit verlagert. MSF ist derzeit an mehr als 20 verschiedenen Standorten im gesamten Land tätig. Wir haben unsere Aktivitäten im Bereich der primären Gesundheitsversorgung an die Akteure übergeben, die zur Übernahme dieser Aufgabe EU-Mittel erhalten haben.
Wir und viele andere Organisationen sind mit der rauen Wirklichkeit und den Problemen des griechischen Gesundheitssystems konfrontiert. Es mangelt an Verkehrsmitteln für die Beförderung von Patienten zu den Krankenhäusern. Es gibt in den Einrichtungen der Gesundheitsversorgung nur wenige Übersetzer oder Kulturmittler, die mit ihren Sprachkenntnissen und ihrem kulturellen Verständnis als Bindeglied zwischen Patienten und Leistungserbringern fungieren könnten. Hinzu kommt, dass wir manchmal zwar imstande sind, Menschen in Krankenhäusern zu behandeln – ein Kind zur Welt zu bringen oder eine Operation durchzuführen –, sie dann jedoch oft zurück in ein Zeltlager schicken. Tun die Behörden in dieser Situation wirklich ihr Möglichstes? Sicher nicht.
Ein veränderliches Gesundheitsprofil
Für diese festsitzenden Menschen ist die Qualität der Lebensbedingungen natürlich ein äußerst wichtiger Faktor. Eine Sache ist es, unter unwürdigen Bedingungen zu leben und auf Lebensmittel, Wasser und sanitäre Verhältnissen von schlechter Qualität angewiesen zu sein, wenn es sich um eine vorübergehende Situation handelt. Eine ganz andere Sache ist es, wenn die Gegebenheiten katastrophal sind und völlige Ungewissheit darüber besteht, wann oder sogar ob sich die persönliche Situation verbessern wird. Zunächst hängen die Menschen weiter ihrem Traum von einer Weiterreise in andere Teile Europas nach. Doch bald erkennen sie, dass dieser Traum vorüber ist, und müssen ihren Verbleib in Griechenland akzeptieren. Viele von ihnen leben unter miserablen Bedingungen und sind kaum darüber informiert, was die Zukunft bringen wird.
Früher haben wir in unseren Programmen für psychische Gesundheit in erster Linie Angstzustände behandelt, vor allem weil die Ankömmlinge in Griechenland aus Gebieten mit gewaltsamen Konflikten stammten oder während ihrer Reise Gewalt und Traumata erlitten hatten. Angstzustände sind heute für uns nicht mehr das Gesundheitsproblem Nummer 1. Es ist Depression, verschärft durch erbärmliche Lebensbedingungen und mangelnde Informationen.
Die Menschen sind verunsichert und fühlen sich bedroht. Sie fühlen sich isoliert und ausgeschlossen von den Informationen, die sie benötigen. Sie fühlen sich diskriminiert. Ein solches Leben wirkt sich auf die psychische Verfassung der Menschen aus. Es beeinträchtigt ihr psychisches Wohlbefinden. Wenn wir „Gesundheit“ wie die WHO definieren, nämlich als Zustand völligen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur als Freisein von Krankheit oder Gebrechen, kann von einem Zugang zu angemessener Gesundheitsversorgung nicht die Rede sein.
Mehr Mittel und neue Ansätze erforderlich
Wir brauchen Regierungen und internationale Organisationen, die Alternativen zur systematischen Unterbringung in Lagern in Betracht ziehen. Wir benötigen Finanzmittel für Programme, die sich an besonders anfällige Menschen richten, etwa Opfer von Gewalt oder Folter, unbegleitete Minderjährige und Menschen mit Vorerkrankungen. Als Europäer müssen wir politische Frustrationen und Machtkämpfe überwinden und uns bemühen, die Schranken für Menschen auf der Flucht vor einigen der grausamsten Konflikte und Verfolgungen und extremsten Formen der Armut unserer Zeit möglichst abzubauen.
Wenn es um die Gesundheit der Menschen geht, müssen wir die Politik möglichst beiseite lassen. Wir sollten die Menschen nicht dafür bestrafen, dass sie fliehen müssen, um ihr Leben zu retten.
Ich bin frustriert, aber nicht hoffnungslos. Ich sehe, dass wir den Menschen noch immer helfen können, und das stimmt mich hoffnungsvoll.